Geschichten aus dem Alltag


Wie war dass eigentlich nochmal, damals irgendwo im Nirgendwo, an der Kreuzung wo wir gerade rausgelassen wurden? In dem Land wo wir die Schrift nicht lesen und die Menschen nicht verstehen konnten. Darum soll es hier gehen!

Diese Kategorie soll jeweils einen einzelnen Tag oder eine einzelne Situation ausführlicher beschreiben, als es ein regulärer Blogartikel könnte.

Ein Versuch den Alltag zu beschreiben, der keiner ist.


Tag 71: Mohnzopf & Plattenbau

Russland, 03. Oktober 2017

Mit Stirnlampen sind wir gestern Nacht von dem Parkplatz eines Motels, auf der Suche nach einem Zeltplatz, in den Wald gelaufen. Einige Minuten liefen wir so durchs Unterholz als eine tiefe Männerstimme auf russisch in den Wald rief. Wir verstanden kein Wort und liefen dem Mann entgegen. Ein bulliger, großer Mann, der ohne Probleme als Türsteher hätte arbeiten können, steht vor uns und prüfte uns im Schein seiner Taschenlampe. „ya ne panimayu po russki“ (z.dt. Ich verstehe kein russisch) sagte Johanna. Zum Glück hat sie die Vokabeln gelernt, denke ich mir noch. Der Mann gibt uns zu verstehen, dass nebenan ein Motel ist und wir auch dort schlafen könnten, aber ihm sei es auch recht wenn wir hier zelten. Wir bedanken uns und suchen weiter nach einem Platz. Mit einem mulmigen Gefühl schlief ich ein. Der Boden war uneben und die Nacht unruhig.
Olga aus St. Petersburg hat uns gestern an der finnisch-russischen Grenzen mitgenommen und hier her gebracht. In der Großstadt hätten wir wahrscheinlich keinen Platz für das Zelt gefunden.

Im fahlen Sonnenlicht des grau verhangenen Morgens sehen wir erst wo wir hier gelandet sind. Nur einige Meter vom Zelt entfernt steht das Fundament eines abgebrannten Hauses, die verkohlten Bäume in einiger Entfernung zeugen noch davon.
Es ist kalt und ungemütlich. Mit vier Schichten Kleidung, Handschuhen und Mütze stehen wir an der Straße und beginnen unseren ersten Tag in Russland. Das Schild mit „Санкт-Петербург“ (St. Petersburg) ist schnell vom Telefon abgemalt, die Daumen sind gezückt und es kann los gehen.

Einige Minuten später hält ein moderner Lada Kleintransporter mit zwei Männern mittleren Alters. Sie sprechen kein Englisch, wir kein Russisch. Wir halten das Schild hoch und gestikulieren in die Fahrtrichtung der Stadt. Sie nicken und wir steigen ein.

Die beiden reden weiter als wäre nichts passiert und ignorieren uns. Vom Rückspiegel hängt eine Papppistole mit der Aufschrift „Sex Mafia“. Auf der Gegenspur kommt uns ein Tieflader mit zwei Kampfpanzern entgegen. Der Verkehr auf der Schnellstraße gleicht eher dem einer italienischen Innenstadt, es wird grundsätzlich dort überholt wo noch Asphalt unter den Rädern ist, alle anderen Regeln sind nebensächlich. Ich muss schmunzeln, all die Klischees über Russland gehen mir durch den Kopf. Wir biegen ab und folgen einer kleinerer Straßen. Bei jeder Abzweigung Richtung St. Petersburg fahren wir entschlossen dran vorbei. Wir werden leicht unruhig. Ich versuchen uns über GPS zu lokalisieren – vergebens. Wird schon gut gehen.

Johanna versucht mit ihren paar Brocken Russisch ein Gespräch mit den Männern zu starten. Die Situation entspannt sich. Wir erzählen uns gegenseitig irgendetwas, lachen und keiner versteht den anderen so wirklich. Ein halbe Stunde später halten wir vor einem großen Supermarkt. Die Männer geben uns zu verstehen, dass sie hier einkaufen werden und uns nicht weiterfahren können. Auch wir erkunden den Supermarkt, hier bekommt man immer einen guten Überblick über Küche und Leute.

Es gibt Allerlei Leckereien wie eingelegte Tomaten und Mohnzopf. Während wir vor dem Supermarkt auf den Rucksäcken sitzen und unsere Mahlzeit genießen, beobachten wir die Leute und die Umgebung. Riesige Plattenbauten, halb zerfallene Autos zwischen den schicken westlichen Wagen, die andere Schrift und soviel Verkehr. Was für ein Kulturschock.

Das Telefon konnte unsere Position inzwischen irgendwo in einem Vorort nördlich von St. Petersburg bestimmen.
Ein junger Mann nimmt uns in seinem japanischen Geländewagen bis zur nächsten Metrostation mit. Die Häuser werden immer größer und dichter, Menschen überall.
Minutenlang stehen wir auf der Rolltreppe in den Untergrund. Hier am Rande der Stadt sind die Metrostationen noch enttäuschend trist gestaltet, im Gegensatz zu den prunkvollen Stationen der Innenstadt, die mit Deckenleuchter, Gemälde und Steinarbeiten jeweils individuell gestaltet sind.

Angekommen in der Innenstadt laufen wir mit unseren schweren Rucksäcken durch die Straßen, auf der Suche nach einer SIM-Karte und Internet. Nach einer Weile werden wir in einer Mall fündig und besorgen uns eine Prepaid-Karte mit Internet für umgerechnet gerade mal 10€.

Ab morgen haben wir eine Unterkunft gebucht, weil Johannas Schwester, Miriam, uns besuchen kommt. Für heute müssen wir uns noch irgendwas suchen. Wir schreiben einigen Couchsurfing Hosts und bekommen eine Zusage für die Nacht, allerdings können wir erst am Abend dort aufschlagen, da unsere Gastgeberin alleine wohnt und erst spät nach Hause kommen wird. So verbringen wir dann die restliche Zeit in der Innenstadt, überwältigt von all der Größe, Prunk und der Architektur.

Abends steigen wir in einen Kleinbus (Marschrutka) Richtung unserer Gastgeberin ein. Wir kommen mit zwei Frauen ins Gespräch, die eine Reihe vor uns sitzen. Eine der beiden spricht auch deutsch und englisch und so quatschen wir ein bisschen, während der Bus sich langsam füllt. Sie sind sehr hilfsbereit und fragen uns gleich wo wir hin wollen. Der Bus fährt in Richtung der Prospekte außerhalb der Stadt, Arbeiterviertel wo sich eigentlich kein Tourist hin verirrt. Sie werden uns sagen wann wir aussteigen müssen, denn es gibt keine Anzeige im Bus und die Durchsagen sind auf russisch.

Der Busfahrer unterbricht unser Gespräch plötzlich und ruft nach hinten so was wie „die zwei Touristen müssen für ihre großen Rucksäcke extra zahlen!“. Die zwei Frauen fauchen energisch zurück und nach kurzer Zeit gibt der Busfahrer auf.
Die Fahrt geht los. Feierabendverkehr. Die Scheiben beschlagen und es wird feucht warm in dem nun gut gefüllten Bus. Eine halbe Stunde später bereitet unsere Gesprächspartnerin uns darauf vor bald aussteigen zu müssen, ihre Freundin hier neben ihr wohnt in der Nähe unserer Unterkunft, sie spricht zwar kein englisch aber sie weiß wo wir hin müssen. Sie wird uns an die Hand nehmen. Wir sind sehr dankbar, verabschieden uns, steigen aus und folgen der älteren Dame über unbeleuchtete Fußwege und viel befahrenen Straßen bis zu einer Gabelung wo sie sich verabschiedet. „Euer Häuserblock ist da drüben, eines der großen Gebäude“ gibt sie uns zu verstehen und zeigt auf einen Plattenbau einige hundert Meter weiter.

Etwas ratlos stehen wir vor dem recht anonym wirkenden Eingang des Gebäudes. Eine Hausnummer sehen wir nicht, Namensschilder oder eine Klingel ebenso wenig. Alle paar Minuten öffnet sich die Tür mit einem lauten Summer. Sind wir hier überhaupt richtig? Wir laufen einmal um den Block um dann festzustellen, dass es nirgends Hausnummern gibt. Zum Glück hat unsere Gastgeberin ihre Telefonnummer mitgeschickt, wir rufen an und werden wenig später abgeholt.

Sie hat in Passau Informatik studiert und ist erst vor ein paar Stunden aus Deutschland her geflogen. Sie wirkt nervös und unzufrieden. Die Wohnung ist im zehnten Stockwerk, Studentenwohnung, klein und funktional.
Wir reden noch eine Weile ehe wir unsere Luftmatratzen auf dem Boden auslegen und das Licht ausgeht. Ich liege noch eine Weile wach da und starre an die Decke. Soviel ist heute passiert. Wir sind in Russland.