Geschichten aus dem Alltag


Wie war dass eigentlich nochmal, damals irgendwo im Nirgendwo, an der Kreuzung wo wir gerade rausgelassen wurden? In dem Land wo wir die Schrift nicht lesen und die Menschen nicht verstehen konnten. Darum soll es hier gehen!

Diese Kategorie soll jeweils einen einzelnen Tag oder eine einzelne Situation ausführlicher beschreiben, als es ein regulärer Blogartikel könnte.

Ein Versuch den Alltag zu beschreiben, der keiner ist.


Tag 309: Gurke zum Abschied

Nepal, 29-30. Mai 2018

Wir wachen im Zelt auf. Nach drei Wochen Pause in Pokhara haben wir uns gestern von unserer vorübergehenden Heimat verabschiedet und sind mit dem Bus zum Begnas Tal Lake gefahren. Wir haben so lange nicht mehr gezeltet (das letzte Mal richtig in Sri Lanka vor 5 Monaten) sodass wir uns erst erinnern mussten, wie wir das früher gemacht haben. Wie hat das alles in die Rucksäcke gepasst, was haben wir immer gekocht, denn es sollte ja möglichst leicht sein und wenig Platz wegnehmen.

Gestern Abend haben wir dann einen Platz zwischen kleinen Hausruinen auf einer Wildwiese gefunden. Manche der Häuser sehen abgebrannt aus.

Zum Frühstück gibt es Mangos. Gerade ist Mangosaison und wirklich, in Nepal habe ich die besten Mangos bisher gegessen. Anschließend packen wir unsere sieben Sachen und laufen in das kleine, 2km entfernte Dorf zurück. Wir wollen zum Nachbarsee Rupa Tal und dort noch eine Nacht verbringen. In der Stadt fühlen wir uns von einem kleinen Kaffee mit dem Namen Lavacake angezogen. Es ist so heiß und dampfig heute, dass wir uns dort eine Limonade gönnen. Dann kaufen wir uns Samosas (mit Gemüse gefüllte, frittierte Teigtaschen) und ein bisschen Gemüse und Obst fürs Abendessen. Das Dorf besteht aus ein paar Häusern, die, wie in Nepal üblich, in allen möglichen Farben zu sehen sind: rosa, hellgrün, weiß, gelb, orange, blau. Es ist staubig und im Vergleich zum sonstigen Nepal eher ruhig. An den Straßenseiten reihen sich Obst- und Gemüsestände, die Frauen tragen bunte, lockere Kleidung, vor kleinen Restaurants, die oft nur einen winzigen Raum zum kochen haben, stehen bunte Plastikstühle und Tische, immer liegt so eine Entspanntheit in der Luft, keiner wirkt gestresst.

Wir setzen unseren Weg fort, laut Karte ist der See etwa 3km entfernt. Unsere Handykarte zeigt aber keine Höhenlinien an, so dauert es in der Hitze einige Zeit bis wir die 3km bergauf, mit unseren schweren Rucksäcken auf dem Rücken, zurück gelegt haben. Ufff. Chris wartet gnädigerweise immer wieder auf mich, er ist mit seinen langen Beinen einfach schneller.

Jetzt sind wir oben… aber der See liegt einige Höhenmeter unter uns und wir haben auch nicht so recht Ahnung welchen Weg wir bergab nehmen sollen. Letztendlich muss uns das Bauchgefühl leiten. Wir gehen nochmal 2km eine Schotterpiste bergab, der Weg führt aber glücklicherweise durch einen Wald und ist dadurch kühler. Wir wissen nicht wo wir raus kommen werden. Es geht an ein paar Häusern vorbei, Hühner spazieren uns über den Weg, einen Brunnen sehen wir zu unserer Linken, ein paar neugierige Blicke, aber keiner fragt, was die zwei Weißen da machen. Dann sind wir endlich am See angekommen und wieder doch nicht. Der Weg hat uns zwar auf Seehöhe geführt aber weit daran vorbei. Wir stehen vor hunderten kleinen Reisfeldern. Irgendwo weit hinten können wir den See erspähen. Einen Zeltplatz sehen wir auf Anhieb nicht, aber auf der anderen Talseite sieht es vielversprechend aus. Da ich Schere-Stein-Papier verliere, bleibt Chris mit den Rucksäcken zurück und ich mache mich auf den Weg auf die andere Seite. Das sind Luftlinie nur 200 Meter, aber immer an den Begrenzungen der Reisfelder balancierend geht es doch langsam voran und dann stehe ich vor einem trüben Fluss. Ich laufe ihn etwas entlang, auf der Suche nach einer Brücke oder einer Stelle, wo wir hinüber springen könnten, aber hier ist er 2 Meter weit. Ich spreche eine Frau an, die mir entgegen kommt und versuche mit Händen und Füßen zu fragen, wo ich denn den Fluss überqueren könnte. Sie deutet mir, dass ich halt einfach durchgehen soll. Ich bedanke mich und stehe noch ein bisschen umher, da kommt mir von der anderen Flusseite eine Frau entgegen, zieht sich ihre Flip-Flops aus, balanciert ihre Tasche auf dem Kopf und läuft dann einfach durch den hüfthohen, brauen Fluss, lächelt mich an und geht ihrer Wege. Mittlerweile steht die Sonne schon tief und es hat eine angenehme Abendtemperatur.

Erschöpft komme ich zu Chris zurück und berichte ihm. Wir entschließen uns, dass wir hier an Ort und Stelle das Zelt aufbauen, obwohl nur 30 Meter von uns ein Haus steht und wir auf einer Anhöhe sind, wo es kaum eine ebene Fläche gibt. Chris macht sich daran das Zelt aufzubauen während ich unsere Wasserflaschen nehme und in Richtung des Brunnens gehen, an dem wir vorhin vorbei gekommen sind. An einem Wohnhaus sehe ich ein paar Kinder. Irgendwie finde ich den Brunnen nicht mehr, er muss wohl doch weiter weg gewesen sein als ich dachte. Ich gehe zu den Kindern und deute ihnen, ob ich irgendwo das Wasser auffüllen darf. Die junge Mutter kommt aus dem Haus, mit ihr ein Mädchen, vielleicht 10 Jahre alt, das verständliches Englisch spricht. Sie zeigt mir einen Wasserhahn. Während ich die Flaschen auffülle erzähle ich dem Mädchen, dass wir ein bisschen weiter den Weg hinunter unser Zelt aufgestellt haben und mein Freund dort ist. Sie, ihre Geschwister und Freunde, sowie die Mutter folgen mir ganz interessiert zurück zum Zelt. Chris ist schon beim einräumen als ich mit meiner Gefolgschaft zurück komme. Wir zeigen ihnen, wie es im Inneren unseres Zeltes aussieht und worauf wir kochen. Das Mädchen fragt bei jedem Gegenstand nach seinem Zweck und geduldig erklären wir alles. Ein wenig später gehen alle wieder und wir schneiden unser Gemüse und setzen den Reis für unser Kartoffelcurry auf. Es ist fast dunkel als das Mädchen mit fünf weiteren Kindern zurück kommt. Sie setzen sich zu uns, dann holt sie ein altes Handy aus der Tasche und sie spielt Musik ab. Eigentlich sind wir hundemüde und erschöpft, aber es ist auch schön, dass die Kinder da sind und ein Austausch statt findet. Irgendwann fordert mich das Mädchen auf zu tanzen und so tanze ich mit drei Mädls zu fremdartiger Musik in der Dunkelheit an unserem Zelt, umgeben von Reisfeldern, in Nepal. Wir kommen von so unterschiedlichen Orten und finden uns hier. Das Reisen ist so schön!

Das Curry ist schon lange fertig als die Kinder nach Hause gehen. Nur zwei hängen noch ein bisschen länger bei uns herum, bis ihre Eltern sie rufen. Sie sehen etwas verwahrlost aus, anders als die anderen Kinder. Wir essen gerade unser Abendessen als wir dadurch aufgeschreckt werden, dass etwas gegen unser Zelt fliegt. Und nochmal. Und nochmal. Chris geht raus und sieht gerade noch wie zwei Kindergestalten weglaufen. Wir rufen ihnen auf Englisch hinterher, dass sie aufhören sollen Steine zu werfen und gehen dann wieder ins Zelt. Es dauert nicht lange bis wieder ein Stein fliegt. Chris rennt raus, die Kinder sind aber schon wieder weg – klarer Heimvorteil. Er bleibt mit Stirnlampe draußen stehen während ich barfuß in der Dunkelheit zu den Reisfeldern gehe, von wo die Steine geflogen kamen. Die Erde ist feucht und kalt, bei manchen Tritten rutsche ich ab, voll in den tiefen Matsch rein. Ich warte und warte. Dann kommt eine kleine Gestalt, als er mich sieht läuft er weg, aber als ich rufe, bleibt er stehen, so hole ich ihn ein. Ich versuche ihm ziemlich ernst klar zu machen, dass er aufhören soll Steine zu werfen, aber er versteht kein Englisch, versucht mir aber zu vermitteln, dass er nichts gemacht hat und dass es jemand anderes war. Ich bin inzwischen echt genervt und gestikuliere nochmals, dass er aufhören soll und versuche mich groß zu machen… zum Glück ist es ein Kind, da fällt meine geringe Körpergröße noch nicht so ins Gewicht. Jetzt kommt auch Chris. Er verdeutlicht nochmal, dass das Steinewerfen jetzt ein Ende haben soll und bietet dem Jungen die Hand an. Der Junge schlägt ein, dann gehen wir und er macht sich auf den Weg nach Hause. Ab da ist es auch ruhig und die Nacht über fliegen keine Steine mehr.

Es hat zeitweise heftig geregnet und gedonnert in der Nacht, aber am morgen scheint die Sonne wieder. Das Mädchen kommt in der Früh in Schuluniform und verabschiedet sich von uns. Wir sehen sie und ein paar andere Kinder zur Straße laufen, von wo der Schulbus sie abholen wird. Was für ein Kontrast die Kinder in ihren sauberen Schuluniformen zu den matschigen Reisfeldern, über die sie gehen, sind. Den steinewerfenden Jungen sehen wir nicht mit ihnen. Als wir zusammenpacken bemerken wir, dass er etwas oberhalb von uns auf einem Hügel im Gras sitzt und uns beobachtet. Wie lang er da wohl schon sitzt? Er knabbert an grünen Mangos herum. Seine Kleidung ist schmutzig und hat viele Löcher. Wir ziehen den Schluss, dass er wohl nicht in die Schule gehen kann, weil seiner Familie dass Geld dafür fehlt. Es muss schmerzlich sein, alle anderen Kinder zu sehen, die jetzt auf dem Weg in die Schule sind mit ihren hübschen Kleidern, aber er darf nicht mitgehen. Jetzt hat er unser volles Mitgefühl.

Er kommt immer näher und wir zeigen ihm, dass alles gut ist. Kein Groll von gestern. Er fragt nach Geld und Schokolade. Wir haben keine Schokolade und Kinder bekommen von uns kein Geld. Diese Regel haben wir uns schon vor Indien gesetzt. Wir haben kaum noch Gemüse, aber wir bieten ihm eine große Gurke an und er nimmt sie zufrieden entgegen und beißt sogleich rein. Aus seiner Tasche gibt er uns zwei grüne Mangos. Ein guter Tausch.

– Johanna