Nr. 19 Süß-Sauer

Die Tage bei Jan werden zu Wochen und das Provisorium wird wie so oft zum Alltag. Es bereitet uns viel Freude einen Teil für diese wertvolle Organisation beizutragen. Unsere Arbeit wird geschätzt und wir lernen viel Neues. Sogar bei einer kurzen Stadtratssitzung sind wir dabei um das Team und das Projekt zu unterstützen.

Auch Anna und Ilja, die wir Anfang März abgeholt haben, arbeiten für einige Tage mit. Wir haben die beiden vor etwas über einem Jahr in Thailand kennengelernt, sind im Kontakt geblieben und nun reisen wir zusammen durch Kanada. Neben der Gartenarbeit helfen wir auch in der Küche aus und kochen an einem Tag das komplette 3-Gänge-Menü für das „Essen auf Rädern“-Programm.

Dann geht es auf in den Norden von Vancouver Island. Uns wurde der Cape Scott Park am nordwestlichen Zipfel der Insel zum wandern empfohlen. Auf dem Weg dorthin mehren sich die Berichte über die Ausbreitung des Corona-Virus. Anfangs denke ich mir noch… weit weg, interessant, aber einfach weit weg, irgendwo in Europa und Fernost. Bis auf das fehlende Toilettenpapier bekommen wir hier nichts mit – bis wir in einem großen Supermarkt in Campbell River vor leeren Reis-, Mehl- und Nudelregalen stehen. Es geht also auch hier los.

Nach einer schönen Halbtagestour bei herrlichem Frühlingswetter verspüren wir alle so langsam das Bedürfnis nach einer Dusche. Später in Port Hardy, der nördlichsten Stadt der Insel, stehen wir vor dem Tresen eines Schwimmbads. Wir haben uns gefreut auf schwimmen, saunieren und ganz besonders die Dusche, aber alle Sportzentren in der Provinz wurden vor 10 Minuten per öffentlicher Mitteilung mit sofortiger Wirkung geschlossen, ebenso die Bibliotheken und andere Versammlungsorte, erklärt uns die freundliche Damen am Empfang. Auch die Touristeninformation schließt auf unbestimmte Zeit. Eine Dusche bekommen wir dann doch noch im Hafengebäude. Auch die internationalen Nachrichten überschlagen sich geradezu.

Eigentlich wollte ich Ende April alleine den Pacific Crest Trail (PCT) in den USA antreten. Einerseits vielleicht keine schlechte Idee, weit weg von der Zivilisation über 4300km von der mexikanischen Grenze bis zurück nach Kanada zu marschieren aber was wird wohl in der jetzigen Situation aus der Versorgung auf dem Trail und überhaupt sollten Johanna und ich getrennt in der sich zuspitzenden Situation sein – und dann noch in den USA? Die Idee zum PCT ist mir vor etwa zwei Monaten gekommen, seitdem habe ich viel Recherche in die nötige Ausrüstung und grundsätzlich Vorbereitung gesteckt. Für viele der PCT-Teilnehmer ist es eine einmalige Chance und eine „life changing experience“ (z.dt. lebensverändernde Erfahrung) auf die sie sich lange vorbereiten, trainieren, wahrscheinlich unbezahlt ein halbes Jahr frei nehmen und ihre Wohnung verkaufen oder vermieten. Nun wurden alle Weitwanderwege in den USA wegen Corona gesperrt. Für mich ist das nicht weiter schlimm, ich habe meine ganz persönliche „life changing experience“ ja schon seit Beginn der Reise.

Jetzt erst mal zu einer ganz realen Wanderung. Nach zwei Stunden auf einer Schotterpiste kommen wir im Dunklen am Cape Scott Provincial Park an. Internet gibt es hier nicht mehr. 4 Tage offline. Wir feiern Annas Geburtstag und laufen durch grandiose Urwälder, Sümpfe und Wiesen zu den wilden Stränden am kalten Pazifik. Auf der anderen Seite ist Japan, sagen wir noch bis wir wenig später Trinkflaschen und Müll mit japanischen Schriftzeichen finden, welche uns bestätigen. Wahrscheinlich Mitbringsel eines Tsunamis. Am Strand treffen wir eine sehr aufgeschlossene und redselige Wanderin die uns sogleich in die „Ranger Cabin“ einlädt. Eigentlich ist diese den Ranger vorbehalten, aber außerhalb der Hauptsaison (Mai-September) kann jeder sie benutzen. Die Cabin teilen wir uns mit 9 weiteren Wanderern, aber es ist genug Platz für alle. Das Zelt und die restliche Campingausrüstung haben wir jetzt zwar umsonst geschleppt, aber bei einem geheiztem Raum mit fließend Wasser kann man nur schwer Nein sagen.

Bei Ausflügen in der Gegend sehen wir viele Wolfsspuren und obwohl wir einmal extra früh aufstehen, um die Chancen einer Sichtung zu erhöhen, haben wir leider keine gesehen. Wir genießen den Ort so sehr, dass wir noch eine weitere Nacht bleiben, obwohl das Essen knapp wird. Wir sind schon dabei Pläne zum rationieren der restlichen Lebensmittel zu schmieden, als wir von anderen Wanderern mit, in deren Augen überflüssigem, Essen überhäuft werden.

4 Tage später, zurück in der Zivilisation, wieder online, glühen unser aller Telefone. Kanada hat die Grenzen geschlossen, die USA haben die Grenzen geschlossen, Europa riegelt ab. Aber was nun? Unser kanadisches Visum läuft in weniger als zwei Wochen ab und wir haben es bereits einmal verlängert und überhaupt wenn wir bleiben könnten, wo sollen wir jetzt hin? Nick und Kaitlyn! Dome Creek!

Jetzt hoffen wir auf die Genehmigung der Visa-Verlängerung – und selbst wenn es nicht genehmigt wird, können wir innerhalb der dreimonatigen Bearbeitungszeit noch im Land bleiben, ganz sicher sieht bis dahin die Welt schon wieder anders aus.

Liebe Grüße an alle, bleibt gesund, verliert den Humor in dieser besonderen Situation nicht und auf bald aus alten Gefilden.

– Chris