1000 Tage fern der Heimat

Diesmal gibt es keine Eintrag zum dreijährigen Reisejubiläum, das auch erst in drei Monaten ist, sondern zu unserem 1000 Tägigen.

Seit 1000 Tagen sind wir jetzt fern der Heimat, haben dafür andere Orte Heimat nennen dürfen und 11 Tagebücher mit Erlebnissen prall gefüllt. Naja, ich zu mindest – Chris macht das digital (231.715 Wörter)

Zahlen, Daten, Fakten

Art der FortbewegungDistanze in Kilometer
per Anhalter23287
Boot17044
eigenes Fahrzeug15222
öffentliche Verkehrsmittel11517
Flugzeug9790
Wandern und Radfahren3237
Gesamt70549

durchschnittliche Ausgaben pro Person, täglich15€
bereiste Länder19
– davon kürzester Aufenthalt in Tagen2, Dänemark
– davon längster Aufenthalt in Tagen310, Kanada
– durchschnittliche Tage in einem Land53
Fotos, bereits sortiert15745
Freiwilligenarbeit gemacht in Wochen39
– in Ländern6
Besuche aus der Heimat5
Längstes Telefonat3 Std., Miriam
Geschriebene Postkarten75
– davon angekommen52

Vor tausend Tag sind wir von München aus in das Leben des Unterwegsseins aufgebrochen. Vorrangig war da eigentlich nur das Bedürfnis lange auf Reisen zu gehen. Was wir aber alles unterwegs erleben und lernen würden hätte ich mir nicht träumen lassen. Ich dachte mir am Anfang der Reise zum Beispiel, dass es Schade ist, dass ich keine Verwandtschaft im Ausland habe, die man nach und nach Besuchen könnte. Inzwischen schaue ich aber auf einen Bekannten- und Freundeskreis, der weit über die Welt verteilt ist und nicht durch vorherige Bekanntschaften entstand sondern durch meist spontane Begegnungen beim Trampen oder auf der Straße. Das fühlt sich wunderschön an.

Als uns Peter nur ein paar Tage nach Beginn der Reise in Norddeutschland zu sich nach Hause eingeladen hat, haben wir noch etwas zurückhaltend zugestimmt. Dass es Leute gibt die Fremde zu sich einladen hatten wir in Filmen und auf Blogs schon mitbekommen, aber wenn es einem dann selber passiert, ist es einfach eine ganz andere Erfahrung. Und nun stimmen wir solchen Einladung mit Freude zu… vorausgesetzt das Bauchgefühl stimmt. Jetzt frage ich mich eher ob es für unsere Gastgeber komisch ist, wenn wir uns ohne Schwierigkeiten sehr wohl in ihrem Heim fühlen. „Fühlt euch wie zuhause“- das muss man uns inzwischen kein zweites Mal sagen. Unsere Fähigkeiten sich in fremden Küchen zurechtzufinden und zu erahnen wo sich welche Utensilien befinden haben auch sich auch stark verbessert.

Als wir aufbrachen hätte ich auch nicht gedacht, dass ich das zuvor gelebte Leben so hinterfragen werden würde, gerade im Hinblick auf soziale Normen. Ja, ich genieße es nur drei Oberteile zur Auswahl zu haben und mich von dem Anspruch freigemacht zu haben, Kleidung jeden Tag wechseln zu müssen. Wir haben erlebt, dass (für uns) weniger oft mehr ist … außer bei Lasagne. Und das Wenige passt sogar in einen Rucksack pro Person (das betrifft selbstverständlich nur das materielle, denn die zahlreichen gastfreundlichen Menschen, die uns auf der Reise begegnen und unterstützen passen in diesen Rucksack nicht rein).

Für uns ist deutlich geworden, dass wir unsere Zeit auf diesem Planeten mit Sachen verbringen wollen, die uns erfüllen. Gerade in Deutschland arbeiten die meisten in einem Job, weil „man ja arbeiten muss“ und Geld zu verdienen um sich sein Leben finanzieren zu können. So weit so gut. Neben dem lebensnotwendigen kauft man sich dann aber Dinge, die einen von seinem stressigen Arbeitsleben ablenken sollen oder fliegt ein oder zweimal im Jahr in den Urlaub, um sich vom Job zu erholen. Aber warte… irgendetwas ist doch seltsam an diesem Kreislauf. Jede Stunde Arbeit ist eine Stunde Lebenszeit die man in die Projekte anderer Leute steckt.

Sollte nicht lieber nur ein Minimum an Lebenszeit in „die Geld produzierende Arbeit“ investiert werden, so, dass man halt Leben kann und den Rest der Zeit in „Zufriedenheit produzierende Tätigkeiten“ verwendet werden?
(Disclaimer: Das sind hier natürlich ganz allein nur meine Gedanken und auf meine Lebenssituation zugeschnitten. Mir ist bewusst in einer privilegierten Lage zu sein, in der ich mir diese Fragen stellen kann)
Ich bin gespannt, ob ich diese Einstellungen beibehalte, wenn wir uns irgendwann wieder in Deutschland niederlassen.

Der Blick in sehr unterschiedliche Länder hat mich auch noch eine große Portion Dankbarkeit gelehrt. Für das Land und die Stadt in der ich aufwachsen durfte, für Europa und die Bewegungsfreiheit, für das Demokratie- und Umweltbewusstsein in Deutschland, das zwar noch besser sein könnte, aber in anderen Ländern so viel schlechter ist. Für kostenlose Schulen und Unis und das Gesundheitssystem. Für die Verbindung übers Internet zu Freunden und Familie. Und zu guter letzt, dass die Welt voller wundervoller Menschen ist, die oft ganz unverhofft auftauchen und jede Begegnung ganz einzigartig und unserer Lebensreise eine neue Geschichte hinzufügen.

Europa

Und zu guter Letzt will ich hier noch meinen Frust loswerden und die Aufmerksamkeit hin zu der Situation in Europa lenken. Klar ist jeder gerade mehr als sonst mit sich selbst beschäftigt und schaut einer unklaren Zukunft entgegen.
ABER für die Leute, die Abschied von ihrer Heimat genommen haben um sich in Sicherheit zu bringen und nun in Griechenland unter menschenunwürdigen Verhältnissen leben, sieht bereits die Gegenwart grausam aus. Europa ist ein Bund völlig verschiedener Länder und Kulturen und schafft es dennoch seit Jahrzehnten friedlich miteinander auszukommen. Aber wir haben Slums wie in Indien in Europa. Obwohl es uns allen so verdammt gut geht. Hilfesuchende werden mit ihren Booten von den europäischen Gewässern illegal zurück auf die türkische Seite gebracht oder mit Gewalt am anlegen gehindert- sollen sie doch schauen wo sie bleiben.

Im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos leben 20.000 Menschen anstatt der 3000 ursprünglich geplanten. „Die Außengrenzen der EU müssen geschützt werden“ heißt es aus Brüssel. Geschützt? Vor wem? Vor Menschen die vor Krieg und Verfolgung fliehen? Wirklich?
8 EU Staaten haben sich bereit erklärt 1600 unbegleitete Kinder und Jugendliche aufzunehmen. Das wurde vor einem Monat beschlossen und bisher wurden noch keine Hundert Kinder in andere EU Staaten gebracht. Tolle Leistung!

Wie kann das sein? Wollen wir, dass wir in solch einer Situation so behandelt werden? Und es handelt sich bei den Menschen die heute kommen bei weitem um keine so große Zahl mehr wie 2015/2016 und wir lassen Griechenland, Italien und Spanien mit dieser Thematik alleine, weil wir eine komfortable Entfernung zum Mittelmeer haben.
Diese Nachrichten die wir da lesen: 40 Menschen im Mittelmeer ertrunken, 100 Menschen ertrunken. Das sind Menschen. Das sind keine Zahlen. Das sind Personen die Mama und Papa hatten, die Freunde hatten, Wünsche und Träume und Hoffnung auf ein besseres Leben. Und bekommen haben sie Salz in die Lungen.
Europa, wieso muss diese Doppelmoral sein? Wenn innerhalb deiner Grenzen dutzende Menschen an einem vermeidbaren Unfall sterben, werden Kerzen angezündet und Reformen angekündigt.

Europa, das sind wir alle zusammen. Ich bin absolut für dich, aber du enttäuschst mich gerade zutiefst!

Mit diesen ernsten Worten verabschiede ich mich für heute. Danke, dass ihr unsere Reise verfolgt und von Herzen wünsche ich euch Gesundheit und frohe Gemüter, weil wir echt mal wieder vor Freude lachen sollten, so gut wie es uns geht.

Auf die nächsten tausend Tage

– Johanna

* das Beitragsbild zeigt die „One World Flag“ von Thomas Mandl. Eine Erde, eine Flagge. Mehr dazu hier: 1worldflag.com