Geschichten aus dem Alltag


Wie war dass eigentlich nochmal, damals irgendwo im Nirgendwo, an der Kreuzung wo wir gerade rausgelassen wurden? In dem Land wo wir die Schrift nicht lesen und die Menschen nicht verstehen konnten. Darum soll es hier gehen!

Diese Kategorie soll jeweils einen einzelnen Tag oder eine einzelne Situation ausführlicher beschreiben, als es ein regulärer Blogartikel könnte.

Ein Versuch den Alltag zu beschreiben, der keiner ist.


Tag 55: Grau bis Lidl-Parkplatz

Finnland, 17.09.2017

Fahles Licht dringt durch die gelben Wände des Innenzeltes. Es ist feucht im Zelt, einige Tropfen Kondenswasser hängen prall gefüllt über uns, drohen bei der kleinsten Bewegung auf uns zu fallen. Die Schlafsäcke sind klamm, die Kleidung feucht und kalt. „Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?“ frage ich Johanna mit einer knarzig belegten Stimme. Die Stimmung ist verhalten. Ohne auch nur aus dem Zelt zu schauen können wir erahnen wie es da draußen wohl aussehen mag. Grau. Einheitlich grau.

Nach einem kurzen Frühstück packen wir unsere Behausung ein und stapfen über eine nasse Wiese zurück zur Autobahn. Zum Glück war der Bauer auf dessen Wiese wir heute geschlafen haben mit etwas besserem beschäftigt als mal vorbei zu schauen.

Wir versuchen heute ins 450 km entfernte Turku zu kommen, schreiben aber vorsichtig pessimistisch lieber das 140 km entfernte Vaasa auf unser Pappschild. Die Erfahrung 3 Tage im Regen auf eine Mitfahrt zu warten, steckt uns noch in den Knochen – aber das ist eine andere Geschichte.


Zum Glück müssen wir nicht lange warten. Ein älterer Mann mit schneeweißen Haaren hält in seinem ebenso alten Mercedes und bietet uns eine Fahrt bis in die nächste Ortschaft an. Man sagt ja Hunde spiegeln den Besitzer wieder – hier ist es das gleiche mit dem Mann und seinem Mercedes, beiden sieht man die gemeinsame Geschichte an, wie alte Freunde fahren sie gemeinsam durchs Land und wurden langsam zu einer Einheit wie der Lesesessel und der Bücherwurm.

»Danke für die Fahrt! Wohin sind Sie heute unterwegs?«


»Zum Golfplatz in Kokkola.«

»Sehr gut … Wo in Skandinavien fahren Sie denn am liebsten hin? Wo machen Sie normalerweise Urlaub?«

»Ach, das ist mir egal, ich mache dort Urlaub wo es einen Golfplatz gibt!«

Der freundliche Golfer setzt uns an einem Supermarkt in Kokkola ab, wir bedanken uns und laufen einige hundert Meter zurück zur Autobahn, an eine Stelle wo es einfach ist für Autos zu halten. Die graue Suppe am Himmel löst sich langsam auf und einige blaue Fetzen zeigen sich.

Auch hier warten wir nicht lange. Ein junges Pärchen, jünger als wir, hält in ihrem getuneten kleinen Volvo. Wir quetschen uns auf die Rückbank. Maija, die Fahrerin, erklärt mit einem gewissen Stolz dass sie das Auto selber umgebaut hat. Detailreich hat sie den kompletten Innenraum umdesignt, mit viel rosa Plüsch und dunkelroten Akzenten. Auch unter der Haube hat sie einiges gemacht, denn ein normales Gespräch ist während der Fahrt kaum mehr möglich. Ihr Partner, Martin, ist auch ein Autonarr. Durch die Lautstärke verstehen wir kaum ein Wort, nur soviel, sie wollen uns etwas zeigen, ob wir denn Zeit haben.

Es geht aufs Land. Abseits der Autobahn werden die Straßen kurviger und umso weiter wir in den Wald fahren, desto schlechter wird die Straße, bis nur noch eine Schotterpiste übrig ist.

Wir kommen schließlich an einigen alten Bauernhäusern zum stehen und steigen aus. Es scheint ein kleines öffentliches Freilichtmuseum zu sein, denn es gibt zumindest ein paar Informationstafeln. Alle Häuser sind offen zum besichtigen. Innen sind sie mit historischen Möbeln und Werkzeugen ausgestattet. Alles wirkt so gut erhalten und so wenig künstlich dass man fast das Gefühl haben könnte, die Familien die hier einst wohnten, kämen jeden Abend nachdem die Besucher weg sind, zurück zum übernachten.

Maija und Martin scheinen noch mehr mit uns vor zu haben. Typisch skandinavisch sind sie eher reserviert und etwas schüchtern, aber es scheint ihnen Spaß zu machen uns zwei Touristen ihr Land zu zeigen also geht es weiter.

Unweit des Museums haben sie sich ein Haus gekauft, das sie uns zeigen wollen. Mehrere Hektar Land, mit Scheune und einem historisch alten Schuppen der Teil des Museums hätte sein können. 70.000€ haben sie dafür gezahlt. »Und der Traktor war im Preis mit dabei« fügt Martin noch hinzu. Auf dem Hof steht auch Martins getuneter Volvo, der dem seiner Frau in nichts nachsteht. Wir sind begeistert aber auch fassungslos. Für diesen Preis könnten wir uns in München gerade mal einen unmöbilierten Gartenschuppen kaufen.


Volvoland


»Wir können noch kurz bei meinem Vater vorbeischauen, das liegt eh auf dem Weg zurück zur Autobahn« sagt Maija als wir uns wieder auf die Rückbank ihres Volvos zwängen. Es ist ja schon eher ungewöhnlich als Frau so auto-fanatisch zu sein, zumindest eher ungewöhnlich bis wir auf ihres Vaters Hof fahren und uns so einiges klar wird. Den Hof könnte man auch als Volvoland bezeichnen und Eintritt für Liebhaber verlangen. Gut 40 Autos stehen hier, teilweise mit Planen abgedeckt, teilweise mit Moos überwachsen. In einem stickigen Schuppen stehen die Autos Tür an Tür. Richtige Raritäten gibt es hier, von denen es nur einige tausend gibt, sagt man uns stolz.

Außerdem im Schuppen, in einer anderen Ecke, stehen Käfige aus denen ein ziemliches Geschrei kommt. Frettchen vegetieren dort vor sich hin. Früher wurden sie für Pelze gehalten, heute lohnt es sich wohl nicht mehr.

Nach einem ereignisvollen Vormittag setzen uns Maija und Martin dann wieder an der Autobahn ab.

Die Segnung


Auch hier müssen wir nicht lange warten. Ein Limosine hält. Ein großer, stämmiger Mann steigt aus dem Auto und räumt uns Platz für unser Gepäck im Kofferraum frei. Er heißt Thomas und ist Geschäftsführer eines der größten Logistikunternehmens in Finnland.

»Erst ein einziges Mal habe ich jemanden von der Straße mitgenommen, …« sagt Thomas »und, wisst ihr ich bin gläubiger Christ. Als ich euch dort in der Ferne gesehen habe, hatte ich das Gefühl euch helfen zu müssen und ich habe ein gutes Gefühl dabei … wo wollt ihr doch gleich hin? Nach Vaasa? Meine Tochter lebt dort!«
»Ja, Vaasa wäre gut! Wohin fahren Sie denn?« frage ich nachbohrend mit dem Gefühl als wäre diese Stadt nicht seine Endstation.

»Ich fahre nach Turku« antwortet er. »Turku!? Das wäre perfekt für uns! Wenn es Ihnen nichts ausmacht, könnten wir dann mitkommen?« sage ich erfreut, mit der Aussicht doch noch unser eigentliches Ziel zu erreichen.
»Natürlich. Ich muss auf dem Weg nur einen kleinen Umweg über die Firma nehmen. 30 Minuten, länger sollte es nicht dauern. Und ihr könntet euch so lange unser Logistikzentrum ansehen.« sagt Thomas.
Ich finde sofort einen Draht zu ihm. Während der über fünf Stunden langen Fahrt reden wir pausenlos. Von Politik, über Reisen bis zu den neusten Regulierungen bezüglich der maximalen Achslast von Lastkraftwagen. Johanna döst irgendwann auf der Rückbank ein.

Es ist bereits dunkel als wir von der Autobahn in ein Gewerbegebiet vor Turku abbiegen. Bei den paar Fabriken an denen wir vorbei kommen brennt schon kein Licht mehr. Dann, ein bisschen weiter, am Ende der Straße ist ein hell erleuchteter Platz mit einer Art Hangar im Zentrum. Gefühlt hunderte von Transportern stehen auf markierten Parkplätzen, bereit be- oder entladen zu werden. Auf jedem der Fahrzeuge steht in riesigen Buchstaben Thomas´ Nachname. Ich bin schwer beeindruckt. Als Geleit des Chefs spazieren wir in den Hangar.

Männer und Frauen in Warnwesten wuseln umher, Gabelstapler verteilen Waren auf die umliegenden Transporter. In der Schaltzentrale erklärt man uns kurz was hier passiert und drückt uns noch eine Broschüre in die Hand für weitere Informationen. Alle wirken sehr beschäftigt. Während wir eine Tasse Tee trinken, bespricht sich Thomas mit einigen Kollegen. Auch ich werde langsam schläfrig. Es ist bereits jetzt ein langer Tag und wir sind noch nicht ganz am Ziel.
Nach zwanzig Minuten geht es wieder zurück auf die Autobahn. Der Verkehr nimmt stetig zu, Leuchtreklamen säumen die Straßen und bekleiden einige Häuser.

»Ich fahre jetzt noch rüber nach Schweden. Meine Fähre geht von hier weg.« sagt Thomas als wir an einem Fährterminal vorbei fahren. »Ist es okay für euch wenn ich euch an einem Supermarkt am Rand von Turku absetze?«
»Natürlich, was immer für dich am besten funktioniert.« antworte ich.

An einem belebten Parkplatz nordwestlich des Zentrums halten wir. Die Luft ist kühl wie im Spätherbst und wirkt belebend nach dieser langen Fahrt. Thomas hilft uns beim Ausladen der schweren Rucksäcke und fragt unerwartet »Darf ich euch segnen?«
Ohne genau zu wissen wie er dass meint, willigen wir ein.

»Schließt eure Augen« sagt er und legt seine großen Hände auf unsere Köpfe. Er fängt mit einem Gebet an und endet mit »… und beschütze Johanna und Chris auf ihrer Reise. Amen.« Ein kribbeln durchfährt mich. Wir bedanken uns ganz herzlich bei Thomas und winken ihm noch nach als er wegfährt.

Schlaftrunken und hungrig stehen wir nun da. Auf der Smartphone-Karte sehen wir unweit von hier eine kleine Wiese eingezeichnet und daneben ist gleich ein Lidl-Supermarkt, das wäre perfekt. Mit steifen Beinen laufen wir die einigen hundert Meter. Die Wiese grenzt direkt an den Kundenparkplatz an, ist aber durch einen Erdhügel vor Blicken geschützt. Während Johanna das Abendessen besorgt baue ich das Zelt auf.


Warm eingepackt knabbern wir noch genüsslich an ein paar Keksen herum, lesen noch ein paar Zeilen und schlafen bald ein.